Suchttherapie unter der Ressourcenperspektive
Suchtkranke gelten häufig als selbst schuld an ihrem Leiden. „Er muss nur wollen!“ heisst es. Sie schämen sich für ihre Abhängigkeit und verheimlichen Ihre Erkrankung.
Der Zustand der Abstinenz wird als selbstverständlich bewertet. Dabei ist der Ausstieg schwierig und in der Regel mit Rückfällen verbunden. Das Gefühl des Scheiterns ist von starken Schuld- und Schamgefühlen begleitet.
Aus dem „süchtigen“ Lebensmodus auszusteigen, ist eine Entscheidung für einen zunächst unbekannten, beschwerlichen neuen Lebensstil. Es ist deshalb wichtig, dass die Betroffenen eine positive Haltung gegenüber diesem neuen Lebensentwurf einnehmen können, um die Motivation für diese Leistungserbringung dauerhaft aufrechterhalten zu können.
Denn Abstinenz ist keine Selbstverständlichkeit, wie dies häufig von Nicht-Süchtigen angenommen wird, sondern eine täglich zu erbringende Leistung!
Bei der «Leistungssensiblen Suchttherapie» (LST), die Martin Fleckenstein entwickelte, ist der Schwerpunkt eine Haltungsänderung gegenüber der Abhängigkeitserkrankung.
Verdeutlicht wird dies den Betroffenen und Angehörigen mit der Gummibandanalogie: «Stellen Sie sich vor, Ihr Gehirn wäre kein komplexes System, sondern ein einfacher Muskel wie ein Gymnastikgummiband, das sie in den Händen halten. Was muss ein Mensch mit einer Abhängigkeitserkrankung tun, wenn er abstinent sein muss? Er muss sich anstrengen, das Gehirn ist gefordert, das Gummiband wird zwischen den Händen angespannt. Die Spannung muss gehalten werden, um abstinent zu bleiben, was viel Kraft und Energie kostet und leicht dazu führt, dass man irgendwann keine Energie mehr hat, das Gummiband weiterhin gespannt zu halten. Man erschlafft meist irgendwann, weil man keine Kraft mehr hat – was gleichbedeutend mit einem Rückfall ist. Und was müssen Nicht-Betroffenen tun, um auf ein Suchtmittel zu verzichten? Nichts! Sie müssen sich nicht anstrengen, nicht aktiv werden. Können Sie dann als Betroffener nicht zu Recht auf sich stolz sein, dass sie die ganze Zeit die Anspannung im Gummiband halten? Das ist eine enorme Leistung!»
Mit der Gummibandanalogie wird versucht den Betroffenen eine andere Haltung der Sucht gegenüber nahezubringen. Stolz auf Ihre Leistung zu sein!
Wichtig ist, dass die Angehörigen auch diese Haltung einnehmen. Die Leistung anerkennen und würdigen. Um dauerhaft hohe Leistungen erbringen zu können, braucht man Motivation, Unterstützung und Anerkennung, gerade vom Umfeld.
Um den Boden für eine zukünftig offene und ehrliche Kommunikation zu ebnen, werden zudem Wünsche und Befürchtungen in Bezug auf die Abhängigkeitserkrankung zwischen Betroffenen und Angehörigen ausgetauscht.
Negative Gefühle wie Schamgefühle der eigenen Suchterkrankung gegenüber und Verheimlichung werden verringert und das Bedürfnis nach Selbstwert (Lob, Anerkennung) gestärkt. Es werden mehr positive Gefühle wie Anerkennung und Stolz erlebt und eine Ressourcenperspektive eingenommen.
Die leistungssensible Suchttherapie verstärkt tendenziell die Ausbildung emotionaler Kompetenzen und führt zu signifikant weniger Rückfällen! Sie verbessert die Kommunikation mit Angehörigen und unterstützt die frühe Beendigung von Konsumereignissen.
Abstinenzbemühungen sind eine täglich zu erbringende Leistung und keine Selbstverständlichkeit, auf die man zu Recht stolz sein darf!
Quelle:
State-of-the-Art Seminar (Sept.2021) am Klaus-Grawe-Institut von Martin Fleckenstein, Thema: Leistungssensible Suchttherapie.
Fleckenstein, M. Fleckenstein-Heer, M. & Leiberg, S. (2020). Mit Stolz aus der Abhängigkeit. Stuttgart: Schattauer.
Lic. phil. Uta Liechti Braune