Sexuelle Probleme als Folge eines unerfüllten Kinderwunsches
Ungewollte Kinderlosigkeit und reproduktionsmedizinische Behandlungen nehmen in Europa laufend zu. Mögliche Ursachen für diese Zunahme beinhalten ein immer höheres Alter bei der ersten Geburt und die Häufung von Risikofaktoren (z.B. sexuell übertragbare Infektionen und Medikamentennebenwirkungen). Ungewollte Kinderlosigkeit kann sehr belastend sein und zu psychischen Problemen führen. Sexuelle Funktionsstörungen und Probleme werden zwar meistens als Verursacher ungewollter Kinderlosigkeit erforscht und diskutiert, können aber auch eine Folge sein. In diesem Blog wird Letzteres besprochen.
Diagnostizierbare biomedizinische Sexualstörungen nach ICD-10 scheinen bei Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch nicht häufiger aufzutreten als in der Allgemeinbevölkerung. Sexuelle Probleme, z.B. verminderte Lust und reduziertes Orgasmuserleben, werden jedoch häufiger berichtet. Somit scheint ein unerfüllter Kinderwunsch mit der Zeit vor allem die Qualität der Sexualität und des Geschlechtsverkehrs negativ zu beeinflussen. Auch berichten Betroffene, dass sich Kinderwunsch und erfülltes Sexualleben häufig im Weg stehen. Im Verlauf einer reproduktionsmedizinischen Behandlung nimmt im Durchschnitt die Häufigkeit und Qualität des Geschlechtsverkehrs ab.
Medizinische Untersuchungen wie ein Spermiogramm können bei einigen Männern stressbedingt zu Erektionsstörungen führen. In gewissen Fällen kann dies einen negativen psychologischen Teufelskreis ankurbeln: Erwartungsdruck –> Verkrampfung –> Erektionsstörung –> Scham- und Versagensgefühle –> Erwartungsdruck. Bei Frauen können insbesondere hormonelle Behandlungen zu einem vermindertem Sexualerleben und -verhalten führen. In gewissen Fällen können die Hormongaben bzw. deren Nebenwirkungen zu belastenden Stimmungsschwankungen bis hin zu Depressionen führen. Durch diese affektiven Störungen wird oftmals auch die Sexualität beeinträchtigt. Der Geschlechtsverkehr „nach Zeitplan“ anhand des fertilen Zeitfensters kann zu Druck führen und wird von vielen Paaren als unbefriedigend und mitunter als stressig empfunden. Gewisse Männer fühlen sich in Folge der Kinderwunschbehandlung auch zum „Samenspender“ degradiert. Diverse reproduktionsmedizinische Verfahren, darunter die stimulierte Insemination und die In-vitro-Fertilisation (IVF), erfordern eine Samengewinnung durch Masturbation. Bei einigen wenigen Männern kann sich dies auch nachteilig auf die Sexualität auswirken.
Insgesamt empfinden insbesondere Frauen ein reproduktionsmedizinisches Verfahren als eine „Achterbahn der Gefühle“ und nicht wenige berichten, dass sich dies auch nachteilig auf ihre Sexualität ausgewirkt hat. Bei Männern scheint die Behandlung weniger Auswirkungen zu haben und insbesondere schwerwiegendere Folgen sind zum Glück selten. Auch kinderlos gebliebene Paare (d.h. erfolglose Behandlungen) scheinen, im Durchschnitt, nur geringfügige Auswirkungen auf die Sexualität zu haben. Es gibt hierbei aber grosse Unterschiede. Einige Paare berichten, dass die „Infertilitätskrise“ sie in der Partnerschaft zusammengeschweisst hätte und sogar zu einer Verbesserung der Sexualität geführt hätte. Einige Paare, und insbesondere Frauen, berichten jedoch über langfristige Einschränkungen und negative Folgen auf die Sexualität.
Das Thema Sexualität sollte darum im Rahmen einer psychologisch unterstützenden Begleitung bei einer Kinderwunschtherapie thematisiert werden. Die Erwartungen und Belastungen, die mit unerfülltem Kinderwunsch und einer allfälligen reproduktionsmedizinischen Behandlung einher gehen, können im Paargespräch mit der Therapeutin besprochen und bearbeitet werden. Sollten sich spezifische sexuelle Probleme ergeben (z.B. Erektionsstörungen beim Mann) so müssen diese therapeutisch angegangen werden (z.B. indem der oben erwähnte Teufelskreis mit gezielten Techniken durchbrochen wird). In manchen Fällen kann auch eine Unterscheidung zwischen zweckorientierter und lustorientierter Sexualität hilfreich sein. Führt eine reproduktionsmedizinische Behandlung zu einer depressiven Reaktion, so wäre sicherlich auch eine weitergehenden (Einzel-)Psychotherapie indiziert.
Weitergehende Literatur:
Wischmann, T. (2009). Sexualstörungen bei Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch. Sexuologie, 16, 111-121.
Lic. phil. Sandrine Lehmann