Das Bedürfnis nach Kontrolle und Autonomie bei Jugendlichen
Im letzten Blogbeitrag der Reihe Grundbedürfnisse zum Thema «Bedürfnis nach Kontrolle und Autonomie bei Kindern und Jugendlichen» wurde vor allem auf das Kindesalter fokussiert. Der heutige Blogbeitrag setzt sich mit dem Bedürfnis nach Kontrolle, Autonomie und Orientierung im Jugendalter auseinander.
Mit zunehmendem Alter wird der Einfluss von äusseren Faktoren wie der Schule, der Gleichaltrigen (Peers) aber auch der Gesellschaft immer grösser. So ergeben sich im Jugendalter immer mehr Anforderungen, welche die Jugendlichen erfüllen sollen.
Um dies genauer zu erläutern wird das Entwicklungsaufgabenkonzept von Havighurst einbezogen (1).
Nach Havighurst bestehen im Jugendalter diverse Entwicklungsaufgaben. Diese können jeweils auch den Grundbedürfnissen zugeordnet werden. Hinsichtlich der Bindung ist es Ziel reifere Bindungen zu gleich- und gegengeschlechtlichen Peers aufzubauen und sich gleichzeitig von den Eltern abzulösen. Zudem ist auch vorgesehen, dass sich die Jugendlichen auf das zukünftige Ehe- und Familienleben vorbereiten.
Hinsichtlich des Selbstwertes soll der eigene Körper und die Erscheinung akzeptiert werden. Hierunter kann auch die Aufgabe der Entwicklung einer Geschlechterrolle verstanden werden, welche jedoch auch bei dem Bedürfnis nach Orientierung eingeordnet werden kann.
Unter dem Bedürfnis Orientierung und Kontrolle können diverse Aufgaben eingeordnet werden. Die Jugendlichen müssen sich auf eine berufliche Karriere vorbereiten,
ein Wertesystem entwickeln, sich diesem entsprechend verhalten und sich auch sozial verantwortlich verhalten.
Natürlich können diese Entwicklungsaufgaben kritisch hinterfragt werden. Gerade ob sie in der heutigen Zeit noch tragbar und sinnhaft sind. Doch auch wenn individuell gesehen diese allenfalls überholt sind, werden sie gesellschaftlich dennoch vorausgesetzt. Und das nicht Erfüllen solcher Aufgaben geht nicht selten mit Verständnislosigkeit seitens der Gesellschaft einher.
Im Jugendalter besteht eine Herausforderung darin diesen von aussen gesetzten Entwicklungsaufgaben nach zu kommen, aber gleichzeitig auch das eigene Bedürfnis nach Selbstbestimmung ausleben zu können. Eine Gradwanderung zwischen Autonomie / Selbstbestimmung / Kontrolle für sich zu übernehmen und sich dennoch sozial zu integrieren und Bindung herstellen zu können.
Gerade wenn diese Anforderungen nicht mit den Bedürfnissen des Jugendlichen übereinstimmen, kann dies zu Inkongruenzen, Spannungen und folglich zu Konflikten führen.
Einerseits, weil Ansprüche an Jugendliche gestellt werden, die sie so nicht erfüllen wollen. Dies führt zu Autonomieverlust. Andererseits sind die gestellten Aufgaben auch je nach Lebensumständen des Jugendlichen sehr anspruchsvoll. So begegnen in der psychotherapeutischen Praxis immer wieder Jugendliche, denen dies sehr schwer fällt. Beispielsweise sich von den Eltern abzulösen, eine berufliche Perspektive (Orientierung) zu entwickeln oder Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Sie entwickeln Ängste, Panikattacken und starke Sorgen, allenfalls auch Zwänge und Essstörungen. All diese Symptome können als ungünstiger Bewältigungsversuch gesehen werden, um mit dem Kontrollverlust umzugehen. Während Ängste und Panikattacken deutlich aufzeigen, dass ein Kontrollverlust erlebt wird, kann das Sorgenmachen und entwickeln von Zwängen und Essstörungen als dysfunktionale Strategie verstanden werden, wieder mehr Kontrolle in das eigene Leben zu bringen.
Die Anforderungen, welche heute an Jugendliche gestellt werden, sind sehr hoch und stehen nicht selten im Konflikt mit ihren eigenen Bedürfnissen.
Deshalb ist es auch im Jugendalter sehr wichtig, dass sie immer noch ein Bezugsperson haben, welche präsent ist und sie unterstützt. Zwar so wenig wie möglich, aber so viel wie nötig. So kann es den Jugendlichen ermöglichst werden ihr Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Kontrolle und Autonomie auch in dieser anspruchsvollen Phase stillen zu können.
Literatur:
Borg-Laufs, M. (2012). Die Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse als Weg und Ziel der Kinder- und Jugendpsychotherapie. Forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (S. 6-19).
Grawe, K. (2002). Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe.
Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.
Oerter/Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim 2002 (5.Auflage), Kapitel 1
lic. phil. Nuša Sager-Sokolić
(1) Zitat von https://lexikon.stangl.eu/3896/entwicklungsaufgabe/(2020-08-17):
«Eine Entwicklungsaufgabe ist nach Havighurst eine Aufgabe, die sich in einer bestimmten Lebensperiode des Individuums stellt. Ihre erfolgreiche Bewältigung führt zu Glück und Erfolg, während Versagen das Individuum unglücklich macht, auf Ablehnung durch die Gesellschaft stößt und zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Aufgaben führt. Man unterschiedet drei Quellen der Entwicklungsaufgabe: physische Reife, kultureller Druck (Erwartungen der Gesellschaft) und individuelle Zielsetzungen oder Werte. (Stangl, 2020).»
Verwendete Literatur
Stangl, W. (2020). Stichwort: ‚Entwicklungsaufgabe‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.