Noch einmal: *** 20 JAHRE KLAUS-GRAWE-INSTITUT ***
Ansprache von: Prof. em. Dr. Kurt Hahlweg, Niedersachsenprofessor für Klinische Psychologie und Psychotherapie, TU Braunschweig
Liebe Mariann, liebe Barbara, liebe Misa, liebe Gäste:
20 Jahre KGI, ein Anlass, die Entwicklung der Psychotherapieforschung seither kritisch zu beleuchten. Wie stellt sich die Forschung und Behandlung dar? Sind die Erwartungen von Klaus Grawe und Euch erfüllt worden?
Die hohe Relevanz psychischer Störungen steht inzwischen außer Frage – dies war im Jahr 2000 noch nicht in dem Maße der Fall. Ein einziges Beispiel soll genügen: Schon 2005 gingen fast die Hälfte des „Burden of Disease“ (Krankheitsbelastungen) in der EU auf psychische Störungen zurück, bei den 15- bis 44-Jährigen stellen heute psychische Störungen in den Industriestaaten 7 der 10 führenden Ursachen dar. Hohe Belastungen über nahezu die gesamte Lebensspanne werden v.a. von Angst- und affektiven Störungen verursacht.
Die große Bedeutung der emotionalen Störungen spiegelt sich auch in der Forschungsaktivität wider. Die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen aus den Jahren 2010 – 2016 (pubmed) zu Depressionen, Angststörungen und Alkoholismus betragen 100.000 Publikationen, pro Tag erscheinen also rund 35 wissenschaftliche Publikationen zu diesen Störungen. Diese Flut an Informationen ist kaum noch zu bewältigen. Wir sind vom Regen in die Traufe gekommen: Gab es früher zu wenig Forschung, so ist heute die Verarbeitung und Filterung der Informationsfülle eine wichtige Aufgabe. Kein Kliniker und Wissenschaftler ist in der Lage, diese Aufgabe selbst auszuführen. Wie dies Klaus Grawe mit Ruth Donati und Frederike Bernauer 1994 noch konnten (Psychotherapie im Wandel: Von der Konfession zur Profession).
In Klinischer Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie wird seit 40 Jahren das biopsychosoziale Störungsmodell (Engel, 1977) gelehrt, in dem das dynamische Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren für das Entstehen und die Therapie psychischer Störungen betont wird.
Wie sieht es nun mit den Fortschritten in diesen 3 Bereichen über die letzten 20 Jahre aus?
Biologie: Gerade in der Psychiatrie ist immer stärker die Tendenz festzustellen, einseitig die biologische Komponente zu favorisieren, so dass psychische Störungen heutzutage weitgehend als neurobiologisch-genetische Störungen (biomedizinisch) verstanden werden. Die Grundsätze lauten:
- Psychische Störungen werden durch biologische Anomalitäten verursacht, die hauptsächlich im Gehirn als „Gehirnerkrankungen“ lokalisiert sind.
- Biochemisch und pharmakologisch fundierte medikamentöse Behandlungen werden bevorzugt.
Die Folge in den USA ist: Reine Psychotherapieforschung ohne biomedizinische Diagnostik wird nicht mehr gefördert (NIMH, Insel). Die längst wissenschaftlich widerlegte Serotoninhypothese der Depression wird trotzdem immer noch von der Pharmaindustrie – durch finanziell teure Marketing-Kampagnen – Psychiatern, aber auch von Patientenvereinigungen weiterhin propagiert und findet in der Allgemeinbevölkerung und in den Medien dankbare Abnehmer. Konsequenterweise ist der Verbrauch von Anti-Depressiva enorm gestiegen.
Wie ist die Evidenzlage biomedizinischer Grundlagenforschung? Beispiele aus dem Depressionsbereich:
a) Suche nach spezifischen genetischen Markern:
Viele Studien wurden durchgeführt, die Ergebnislage ist enttäuschend. In 2018 wurden z.B. drei genomweite Assoziationsstudien (GWAS, engl. Genome-wide association study) publiziert, jede fand neue, bisher unbekannte genetische Marker, kein Marker ließ sich replizieren. Kein Marker erlaubt eine zuverlässige individuelle Vorhersage, ob spezifische Anti-Depressiva (primär serotonerg oder noradrenerg) bei einem bestimmten Patienten wirksam sind oder nicht. Die genetischen Tests sind kaum reliabel und für die klinische Praxis weder nützlich noch sinnvoll.
b) Neurobiologische Hirnfunktionen (Neuroimaging, fMRT, PET): Eine Meta-Analyse (Müller et al., 2017) über 54 Studien ergab kein signifikantes Ergebnis, Unterschiede hinsichtlich der neuronalen Aktivitätsmuster bei unipolaren Depressiven sind also inkonsistent. Querschnittstudien erlauben sowieso keine kausalen Aussagen: Sind die neurobiologischen Ergebnisse Ursache oder Folge der depressiven Symptomatik? Wir wissen aktuell nicht, ob irgendetwas, und falls ja, was im Gehirn von Depressiven anders funktioniert als im Gehirn von Gesunden. D.h., aus den Forschungsbefunden gehen keine neuen diagnostische und innovative Behandlungsmodalitäten heraus. Nach 30 Jahren neurobiologischer Forschung resultieren keine neuen Medikamente, die den älteren trizyklischen oder neueren SSRI klinisch bedeutsam überlegen wären.
Resultat: Pharmafirmen haben die Forschung im Depressionsbereich eingestellt.
Allerdings ist besorgniserregend, dass die Anti-Depressiva-Verschreibungen über die letzten 30 Jahre massiv zugenommen haben. In Deutschland betrug der Anstieg von 1990 – 2016 fast 750%, ausgedrückt in Tagesdosen (DDD=Defined Daily Dosage: Menge des Arzneimittels, die pro Tag bei Erwachsenen angewendet wird) ein Anstieg von 197 auf 1.500 Mill. TD.
Rein rechnerisch erhält mittlerweile jeder erwachsene GKV-Versicherte in Deutschland 21 Tage im Jahr Antidepressiva.
Der sogenannte biologische Zugang zur Erklärung und Behandlung psychischer Störungen wird als Erfolgsgeschichte dargestellt. Die Erzählung zur psychopharmakologischen Behandlung beinhaltet die Behauptung, dass es früher keine oder kaum angemessene Therapien gab, heute nach Einführung der modernen Psychopharmaka jedoch alles viel besser sei. Wir hätten nun ein biologisches Verständnis psychischer Störungen und daraus abgeleitet erfolgreiche Behandlungen für die meisten von ihnen. Die modernen Medikamente hätten die Behandlung revolutioniert und gegenüber früher dramatisch verbessert. Insgesamt sei dies die größte Erfolgsgeschichte im Bereich psychischer Gesundheit (vgl. Whitaker 2010). Erinnert irgendwie an „Von der Profession zur Konfession!“
Wenn das so wäre, dann stellt sich jedoch die Frage, warum wir zeitgleich mit dem Anstieg der nahezu flächendeckenden Verordnung von Psychopharmaka einen unerhörten Anstieg der krankheitsindizierten Belastungen, Arbeitsausfällen und Frühverrentungen aufgrund psychischer Störungen erleben. Während bei Frühverrentungen alle anderen wichtigen Ursachen entweder abnahmen oder stabil blieben, gibt es bei psychischen Störungen einen deutlichen Anstieg, der im Wesentlichen von depressiven, Angst- und somatoformen Störungen getragen wird. Zudem scheinen die Verläufe affektiver Störungen in den Industriestaaten heute deutlich schlechter zu sein als vor 70 Jahren. Die Koinzidenz von wachsender Krankheitsbelastung und steigenden medikamentösen Behandlungen ist bemerkenswert.
Sind Medikamente denn nun wirksamer als Psychologische Psychotherapie?
Wirksamkeit: Von Heilbehandlungen verlangen wir Wirksamkeit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit (SGB V). Hinsichtlich der Wirksamkeit ist die Unterscheidung von kurz- und langfristigen Therapieeffekten von zentraler Bedeutung. Kurzfristig ist die Pharmakotherapie bei der Behandlung von Angststörungen und Zwängen schlechter als die kognitive Verhaltenstherapie (KVT), bei Depressionen scheinen die beiden Modalitäten etwa gleichwertig zu sein. Langfristig übertrifft KVT bei Angststörungen wie Panik und Phobien oder Zwängen noch eindeutiger Benzodiazepine und Antidepressiva. Bei den Depressionen wurde zunächst behauptet, dass 70% der Patienten auf Antidepressiva und 30% auf Placebo ansprächen. Heute liegen diese Zahlen jedoch näher bei 40% und 30%.
Bei der Nachhaltigkeit der Therapiewirkungen trennt sich dann endgültig die Spreu vom Weizen. Langfristige Katamnesen zu medikamentösen Therapien fehlen weitgehend, die wenigen Ausnahmen sind methodisch hoch fragwürdig. So waren etwa in der Metaanalyse von Bakker et al. (2002) zum Katamnesezeitpunkt nur noch 15 % der Patienten aus den Medikamentenbedingungen untersuchbar. Dennoch ist inzwischen klar, dass bei medikamentösen Behandlungen in aller Regel nach dem Ende der Therapie auch das Ende der therapeutischen Wirkung zu beobachten ist. Psychologische Psychotherapie der alten Schule hat sich somit hervorragend bewährt.
Auch das zweite Desiderat des SGB V, die Sicherheit, wirft große Fragen auf. Für moderne Antidepressiva (neben SSRI, Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern SNRI), liegen inzwischen besorgniserregende Befunde vor. Unerwünschte Wirkungen umfassen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, gastrointestinale Symptome, Gewichtszunahme, sexuelle Dysfunktion, Osteoporose, Schlafstörungen, um nur einige zu nennen. Ein oft unterschätztes Problem bei der Verwendung fast aller SSRIs und SNRIs sind Absetz- bzw. Entzugssymptome bei Behandlungsabbrüchen oder Unterbrechungen. Zum klinischen Bild gehören Zittern, Tachykardie, sexuelle Dysfunktion, Schwindel, Schlafstörungen, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall, aber auch vermehrte Angst und Stimmungsschwankungen, die oft als Wiederauftreten der ursprünglichen Angst- oder Depressionsprobleme fehlinterpretiert werden.
Psychologie: Neue Konzepte
Wie steht es um die Entwicklung von neuen Konzepten? Hat die Psychologische Psychotherapie so wie sie Klaus Grawe konzipiert hat, weiter an Boden gewonnen? Leider nein.
Entwickelt wurden 3. Welle-Verfahren wie Acceptance and Committment Therapy (ACT, Hayes, 2011); ACT = KVT; Dialektische Verhaltenstherapie DBT (Linehan) (Borderline); Achtsamkeit/Mindfulness; EMDR (Shapiro) EMDR = KVT; Schema Therapie (Young): In keinem Fall wirksamer als klassische KVPT.
– Neue grundlegende Prinzipien in der Psychotherapie sind in den letzten Jahrzehnten nicht mehr entwickelt worden (und es kündigen sich auch keine bahnbrechenden Entwicklungen an).
– Psychotherapie ist vor allem dann erfolgreich, wenn es gelingt, direkt an der Problematik zu arbeiten (und nicht nur über sie zu reden).
– Psychotherapie-Effekte lassen sich vermutlich (nur) dadurch verbessern, dass bekannte Methoden verfeinert werden.
– Importproblem: Probleme lassen sich oft nur schwer in die Therapiesitzung importieren.
– Exportproblem: Veränderungen lassen sich schwer aus der Therapiesitzung in den Alltag transferieren (Döpfner, 2019)
Kommen wir zum 3. Aspekt des Krankheitsmodells: die soziale Seite:
Patienten leben nicht in einem sozialen Vakuum. Deshalb werden den interpersonalen Beziehungen des Patienten im Therapieverlauf große Bedeutung beigemessen und folgerichtig auch in der Ausbildung des Klaus-Grawe-Instituts (KGI) umfangreich gelehrt. Das KGI ist hier ein Leuchtturm-Institut: Ich kenne kein Ausbildungsinstitut in Deutschland, dass so viel Wert auf die interpersonalen Bezüge legt! Leider ist die Einbeziehung von Partnern in die Therapie ansonsten eher die große Ausnahme: Psychotherapie ist immer noch eine individuelle Therapie. Und dies obwohl es überzeugende Hinweise gibt, dass der Einbezug der Familie zu deutlich besseren Ergebnissen führt:
– Besonders prägnant sind die Zahlen zum Familienmanagement bei schizophrenen Patienten zur Rückfallprophylaxe: werden Familienangehörige mit einbezogen, sinkt die Rückfallrate von 45% auf 10%.
– Oder die Daten von Don Baucom und Melanie Fischer bei der Therapie von Zwangspatienten: Wird der Partner als Co-Therapeut einbezogen, zeigen sich Effektstärken von 2.7 im Vergleich zu 1.5 bei KVT-Einzelbehandlung.
– Oder bei Anorexia nervosa: Mit Partner-Einbezug steigert sich der Body Mass Index (BMI) von 16.5 auf 20 beim 3-Monats-Follow-up, bei Einzeltherapie nur auf 18.
Längst ist Paartherapie in England eine anerkannte Methode bei der Depressions-Therapie – bei uns würde die Krankenkasse nicht zahlen! Der Einbezug von Familienangehörigen würde auch helfen, die Import-Export-Probleme zu verringern.
Der wichtigste Beitrag zur Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse in die klinische Routinepraxis stammt jedoch aus dem englischen IAPT-Programm („Improving Access to Psychological Treatments“), einer international beispiellosen, groß angelegten Initiative zur Verbesserung des Zugangs zu psychologischen Therapien bei Depressionen und Angststörungen (IAPT 2018, vgl. Clark et al. 2009, 2018). Ab 2008 erweiterte die britische Regierung den Zugang zu evidenzbasierten psychologischen Therapien durch die Ausbildung neuer Mitarbeiter für spezialisierte Dienste in ganz England. Dort verfügt inzwischen jeder lokale Gesundheitsdistrikt über einen IAPT-Service, der psychologische Behandlungen nach den Richtlinien des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) anbietet. Für alle Angststörungen wird die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) empfohlen. Bei Depressionen wird ein breiteres Behandlungsspektrum (KVT, Paartherapie, IPT (interpersonelle Therapie) und kurze psychodynamische Therapie) empfohlen. Die neuesten Daten zeigen, dass fast eine Million Menschen pro Jahr eine erste Untersuchung und Beratung durch den IAPT-Dienst erhalten, wobei mehr als 540’000 Menschen anschließend eine Therapie von zwei oder mehr Sitzungen durchlaufen (IAPT, 2018).
Eine Besonderheit ist die systematische Evaluation, für die bei 98% der Patienten prä-post-Daten vorliegen und deren aggregierte Auswertungen öffentlich zugänglich sind (Clark et al. 2018). Die Therapieerfolge entsprechen dabei weitestgehend den Ergebnissen aus der Psychotherapieforschung – und dies im breiten Routineeinsatz: 68% berichten deutliche Reduktionen in Angst und Depression; erreichten im Jahr 2009 nur 37% nach Therapieende Normalwerte, waren es 2018 55% (range 36% – 65%); wurden 2009 nur 200’000 Patienten behandelt, waren es 2019 schon 1.1 Mill. und das Ziel für 2023 sind 2 Mill. Patienten.
Nun, dies war ein langer, persönlicher Rückblick zur Versorgungslage von Patienten mit psychischen und psychosomatischen Störungen.
Die Schlussfolgerung für Euch am Klaus-Grawe Institut ist sehr kurz: Eure Arbeit am Institut ist großartig und wichtig. Verwirklicht Ihr doch das bio-psycho-soziale Modell in vorbildlicher Art und Weise und folgt den Forschungsbefunden, so wie Klaus Grawe es sich gewünscht hätte. Macht weiter so: Psychotherapie in Klausen‘s Sinne hat eine große Zukunft! Alles Gute für die nächsten 20 Jahre!!
Literatur:
– Clark, D. M. (2018). Realizing the mass public benefit of evidence-based psychological therapies: The IAPT program. Annual Review Clinical Psychology, 14, 159-183.
– Hengartner, M. P. (2019). Eine methodenkritische Evaluation der bio-medizinischen Depressionsforschung: Wie zuverlässig und praxisrelevant sind vielbeachtete neurobiogenetische Befunde? Psychotherapeutenjournal, 2/2019, 110-117.
– Margraf, J. (2019). Diagnostik und Therapie psychischer Störungen unter besonderer Berücksichtigung emotionaler Störungen. Manuskript, Bochum, Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit.
– Padberg, T. (2018). Placebos, Drogen, Medikamente – Der schwierige Umgang mit Antidepressiva. Psychotherapeutenjournal, 1/2019, 324-330.
– Strauß, B. (2019). Innovative Psychotherapieforschung – Wo stehen wir und wo wollen wir hin? Psychotherapeutenjournal, 4/2018, 4-10.
– Vorderholzer, U. (2019). Die dritte Welle der Verhaltenstherapie – Überlegenheit im Vergleich mit klassischer kognitiver Verhaltenstherapie. Verhaltenstherapie, 29, 77-79.
Prof. em. Dr. Kurt Hahlweg, Niedersachsenprofessor für Klinische Psychologie und Psychotherapie, TU Braunschweig:
Ansprache am Jubiläum: 20 Jahre Klaus-Grawe-Institut (31.08.2019)
Wir vom KGI danken Kurt Hahlweg von Herzen für diese wunderbare Ansprache und dafür, dass wir sie veröffentlichen dürfen!